Toxischer Stress durch Kontaktabbruch

„Eine Vollkatastrophe für das Kind“

Wenn ein Baby den Kontakt zu seinen Bezugspersonen verliert, löst das toxischen Stress und Traumata aus, sagt die Kinderpsychologin Dagmar Brandi.

Interview: Katharina Schipkowski

taz: Frau Brandi, wie wirkt sich ein Beziehungsabbruch im ersten Lebensjahr auf die Entwicklung eines Säuglings aus?

Dagmar Brandi: Im ersten Lebensjahr sind Kinder vollständig auf feinfühlige und zuverlässige Versorgung durch ihre Bezugspersonen angewiesen, damit sich das Urvertrauen entwickeln kann, welches uns für das ganze Leben stärkt. Mangel oder Abbruch dieser lebensnotwendigen Zuwendung verursacht toxischen Stress und führt zu einem Bindungstrauma.

Kann das Baby die Mutter oder den Vater nach einem Kontaktabbruch vergessen?

Auf alle Fälle. Ein Säugling hat noch kein inneres Bild von seinen Bezugspersonen. Erst in der Interaktion lernt es seinen eigenen Körper und seine Bedürfnisse kennen, danach seine Umwelt. Dafür ist Kontinuität wichtig. Erst mit zwei Jahren sind wesentliche Teile des Gehirns so entwickelt, dass ein Kind beginnt, längere Trennungsphasen einzuordnen. Mit drei bildet sich das Gedächtnis.

Wie oft müssten sich Eltern und Kind sehen, damit sie sich nicht entfremden?

Am besten täglich, vor allem in alltäglichen Situationen. Es muss nicht über viele Stunden sein. Für das Kind ist am wichtigsten, zu erfahren: Wer gibt mir Essen, wer streichelt mich richtig, wer wechselt meine Windel, spielt mit mir und kennt mich?

Was passiert, wenn ein Baby über einen längeren Zeitraum keine feste Bezugsperson hat?

Es ist eine Vollkatastrophe für das Kind. Ich habe das in rumänischen Heimen erlebt. Kinder, die vor dem zweiten Lebensjahr keine Bezugspersonen haben, haben „Löcher“ im Gehirn, weil Teile des Nervensystems nicht aktiviert wurden. Das Wichtigste ist die gefühlsmäßige Entwicklung, alles andere kommt obendrauf. Die kann nur gelingen, wenn vertrauensvolle Bindungspersonen da sind.

Gibt es in Heimen keine Bezugspersonen?

Doch, dazu sind sie ja da. Aber die Menschen, die dort arbeiten, sind nicht rund um die Uhr da. Spätestens im Alter von 6 Wochen wird häufiger Betreuerwechsel kritisch. Das Baby braucht dann jemanden, den es betrachten kann, mit dem es eine Beziehung aufbauen kann.

Und wenn da keiner ist?

Dann löst das ein Ohnmachtsgefühl aus. Die schlimme Erfahrung, nicht gehalten zu werden, bedeutet maximalen Stress für das Baby. Es kann dadurch sehr passiv werden und wie eingefroren wirken, oder es strengt sich wahnsinnig an, um eine menschliche Reaktion zu erreichen, und bleibt dadurch übererregt. Diese Stressmuster bleiben ein Leben lang bestehen.

Eine Gefängniszelle ist wohl kein gutes Umfeld. Besser im Knast mit Mama oder im Heim ohne Bezugspersonen?

Eindeutig besser im Knast mit Mama. Aber es ist nicht einfach. Viele Mütter fühlen sich in der Babyzeit schon in ihrer Wohnung isoliert. Das stresst Mütter. Eine Haftzelle ist maximaler Stress. Wenn die Mutter mit ihren Problemen so beschäftigt ist, kann sie vielleicht Freude am Kind haben, aber sich innerlich nicht gut darauf einlassen. Das kann sehr irritierend für das Kind sein. Mutter und Kind bräuchten in so einer Situation Begleitung.

Wie könnte die aussehen?

Jemand müsste in einer entwicklungspsychologischen Beratung zusammen mit der Mutter gucken, was das Baby braucht. Außerdem würde ein videogestützter Bindungsaufbau helfen: Man schaut sich das Verhalten zwischen Eltern und Kind an und zeigt den Eltern erst mal nur, wo es super lief und wo nicht so gut. Die Momente, wo es gar nicht klappt, lässt man erst mal weg. Man will Mut machen, dass es sich lohnt, in Beziehung zu bleiben. Das hilft ungemein.

Gibt es in Politik und Verwaltung ein Bewusstsein für das Thema?

Das Thema „Frühe Hilfen für Eltern in Haft“ ist in der Öffentlichkeit kaum präsent. Das Kindeswohl ist in der Hamburger Verfassung verankert. Man muss Kinder schützen, aber ihnen immer die Chance geben, eine frühe Beziehung aufzubauen. Auch wenn große Belastungen vorliegen. Für die Entwicklung des Kindes kann es besser sein, zu wissen, dass seine Eltern versucht haben, gute Eltern zu sein, als eine Leerstelle in der Biografie zu haben.

Dr. Dagmar Brandi