Schreibabys
3 Minuten
Kindliches Schreien ist ein wichtiges kommunikatives Signal, das Babys aussenden,
um ihr Bedürfnis nach Schutz und Bindung zu zeigen. Sofort löst es in den Bezugspersonen ein Fürsorgebedürfnis aus und lässt die Alarmglocken läuten: Der Stresspegel steigt!
Wenn ein Baby schreit, wollen wir es still – machen.
Denn wir spüren, dass das Schreien uns „an die Nieren geht“. Wir können nicht anders als uns darum zu kümmern. Das tun Eltern dann auch, allerdings meistens mit eher zuviel als zu wenig Aktivität. Eltern fühlen sich verunsichert und der eigene Stress kann sich dann zum Beispiel in schnellem Wiegen entladen. Das Zuviel an Aktivität führt dann nicht selten zu einer Überstimulation, d. h. Überreizung des Säuglings.
Das Interpretieren und Eingehen auf das Schreien ist jedoch nicht immer so leicht, besonders am Anfang.
Lächeln, Quengeln, Schreien – mit diesen Äußerungen kann das Baby schon ganz viele seiner Fähigkeiten einsetzen, um räumliche Nähe und emotionale Sicherheit durch die Bezugsperson zu erreichen.
Das Schreien gehört also zum Sicherheitssystem des Säuglings und wird aktiviert, wenn er sein eigenes Sicherheitsbedürfnis bedroht sieht. Dies führt unmittelbar zum Fürsorgeverhalten der Bezugsperson, die mit Aufnehmen, Wiegen, Streicheln, Singen, etc. reagiert,
bis die Bedürfnisse des Babys nach Nähe und Sicherheit befriedigt sind. Sobald es sich geschützt und sicher fühlt, wird das System deaktiviert.
Doch woher wissen Eltern, was ihrem Baby fehlt?
Es muss, um nach der Geburt mit sich in der neuen Welt zurechtzukommen, völlig umlernen und vieles von Grund auf neu lernen: atmen, Hunger- und Sättigungsgefühl kennen lernen, verdauen, seine Temperatur regulieren, sich gegen die Schwerkraft bewegen, mit viel größerer Bewegungsfreiheit und anderen Sinneseindrücken, vor allem mit übermäßig starken visuellen und akustischen Reizen umgehen.
Zur Regulation seiner biologischen und emotionalen Bedürfnisse ist das Kind angewiesen auf Erwachsene, die ihm Sicherheit, Geborgenheit und Nähe garantieren und lernen, sein Schreien bald zu lesen: Hat mein Kind Hunger? Möchte es eine Trinkpause für das Aufstoßen machen? Soll ich kein Gemüse mehr essen? Hat es Bauchweh? Möchte es schlafen? Langweilt es sich? Hat es eine volle Windel? Ist es wund? Ist ihm kalt? Oder soll es ruhig schreien, weil das gut für die Lungen ist?
Glücklicherweise hat die Natur dafür gesorgt, dass nach einer komplikationslosen Geburt die erste intensive Kontaktaufnahme, wenn das Baby auf dem Bauch der Mutter liegt, bereits zu einer großen Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin führt. Das Baby beginnt aktiv zur Brustwarze zu robben und diese mit dem Mund zu suchen, um dann daran zu saugen. Dies führt zu einer noch größeren Ausschüttung des Bindungshormons und einem Polster an Glücksstoffen, die helfen, die ersten stressigen Wochen der Rundumbetreuung des neuen Familienmitgliedes zu überstehen. Dies ist das Startkapital für das neue Unternehmen Familie: die intuitive elterliche Kompetenz! Damit treten Eltern in innigen Kontakt: Sie verändern die Stimme, ahmen die Babylaute nach und tauschen mimische Grußbotschaften aus. Die Kinder senden lesbare Signale aus und die Eltern lernen rasch, diese zu lesen.
Eltern, die aufmerksame Wachzustände bei ihrem Kind zur Kontaktaufnahme nutzen, helfen den Babys ihre Befindlichkeit, ihr Verhalten und ihre physiologischen, sensorischen, affektiven, motorischen und aufmerksamkeitsbezogenen Prozesse zu regulieren. Positive Bindungserfahrungen ermöglichen dem Kind eine gute Entwicklung, Vertrauen in sich selbst, Autonomieentwicklung, Lernbereitschaft, eine ausgeglichene Emotionalität und gutes Angst- und Stressmanagement im weiteren Leben.
Jedes 5. Kind aber schreit übermäßig viel. Für Schreibabys gilt die 3er – Regel: Schreibabys schreien mehr als drei Stunden am Tag, an drei Tagen in der Woche, über mindestens drei Wochen. Meist endet dieser Horror nach drei Monaten.
So viel Schreien bedeutet maximaler Stress für die Eltern und führt dazu, dass sie alles versuchen, um das Kind zur Ruhe zu bringen. Manchmal tun sie des Guten zu viel: sie stillen das Kind bis es überläuft, sie wiegen heftig und sie führen zu noch größerer Unruhe durch rasch wechselnde Aktivitäten. Wenn ein unzufriedenes Baby und ein erschöpfter Erwachsener Tag und Nacht zusammenleben, führt das leicht zum Teufelskreis einer negativen Gegenseitigkeit. Das Baby sendet keine lesbaren Signale mehr aus und die Eltern finden die Lesebrille nicht dazu.
Selbst Eltern mit feinfühligem Verhalten sind dann nicht mehr in der Lage, das sehr unruhige Verhalten ihres Babys richtig zu lesen.
Aus der anfänglichen Hilflosigkeit der Eltern kann schnell aus Ohnmacht geborene Aggression werden. Die Zeitungen sind voll mit Berichten über tragische Kindesvernachlässigungen und –misshandlungen.
Vor allem das Gefühl, als Eltern überfordert zu sein oder unter dem Verlust des der innigen Verbundenheit zum Kind zu leiden, sollte Eltern Anlass sein, sich dringend Hilfe zu suchen. Auch wenn ihr Kind nicht unter die o. g. 3er – Regel für Schreibabys fällt, sondern es subjektiv beurteilt zu viel schreit, quengelt oder zu unruhig ist, sollten Eltern nicht zögern, sich professionelle Unterstützung zu holen. Sich hilflos und unfähig zu fühlen bei einem exzessiv schreienden oder auch ständig quengelnden Baby, kann allen Eltern widerfahren: alt, jung, arm, als Paar, allein, in allen Kulturen und Bildungsschichten und bedeutet unter Umständen eine Lebensgefahr für das Baby.
Alle Beispiele zeigen:
Frühes Eingreifen hilft eine gute vertrauensvolle Bindung des Kindes an die Eltern herzustellen.
Wir von der Babyambulanz – Von Anfang an haben den Elternkurs SICHERER HAFEN entwickelt. Bereits bevor das Kind geboren wird, können Paare sich auf ihr zukünftiges Elterndasein vorbereiten, ihre möglichen Ängste benennen und sich auf die Geburt und die Zeit danach einstellen. Sie können rechtzeitig lernen, sich auf einen neuen „Beruf“ vorzubereiten, der ihnen viel abverlangt, aber auch ungeheuer viele Glücksmomente schenken kann und mit dem sie sich als Erwachsene auch noch viel weiter entwickeln können und sollen, als sie vorher ahnten.
Solange diese Kurse noch nicht überall angeboten werden, sollen junge Eltern nicht zögern, Zeichen der Erschöpfung und Verzweiflung richtig zu deuten und nach Kraftquellen zu suchen, die ihnen helfen, ehe ihr Akku ganz leer ist. So ist es sinnvoll, sich gut mit anderen bereits vor der Geburt zu vernetzen, um sich gegenseitig zu helfen zum Beispiel durch Nachbarn, Tagesmutter, etc.. Was in Afrika gilt, trifft auch auf unsere Babys zu: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen! Wenn Eltern imstande sind, sich selbst Gutes zu tun, hilft das ihrem Baby. Mit mehr Ruhe, Struktur und Regelmäßigkeit unterstützen sie der Regulationsfähigkeit ihres Babys am besten.
Doch gibt es auch Babys, die schreien und quengeln aufgrund von Körperwahrnehmungsstörungen, die durch rasche fachkundige Diagnostik erkannt und behandelt werden können.
Den Eltern wird dringend zur Abklärung geraten, ob bei ihrem Baby ein KISS – Syndrom, eine neurologische Auffälligkeit oder eine Verdauungsstörung vorliegt. Nach komplizierten Geburten ist Osteopathie oder Babymassage eine gute Möglichkeit, Spannungen abzubauen. Bei stärkeren Tonusstörungen sind, möglichst früh einsetzende neurophysiologische Behandlungen hilfreich. Eine Förderung der Wahrnehmung und Interaktion kann die sensorische Integrationstherapie bewirken. Sie können Unterstützung finden in einer möglichst interdisziplinären Beratungspraxis oder in psychosomatischen Tageskliniken.
Wichtig ist es, bei einer so schweren und rund um die Uhr anhaltenden Belastung nicht zu zögern, sich rechtzeitig kompetente Hilfe zu holen und damit echte Prävention von schweren Schäden zu treiben.